Europäische Literaturtage 2023

16. bis 19. November 2023 in Krems an der Donau

Willkommen zu den Europäischen Literaturtagen 2023!

Der Mensch als Lebewesen, das über die Erde herrscht, hat seinen Zenit überschritten. Während seines atemberaubend raschen Aufstiegs im Industriezeitalter verlernte er nämlich, im Einklang mit sich und der Natur zu leben. Der Blick der Tiere kann ihm dabei helfen, sich als geschwisterlicher Teil der Welt wiederzuentdecken, in der er mit ihnen zusammenlebt. Im Blick der Tiere, so der französische Dichter und Essayist Jean-Christophe Bailly, eröffnet sich die Frage, wo die Grenzen zwischen dem Menschen und den anderen Lebewesen verläuft. Die Tiere kennen seine Grausamkeit, zugleich weist ihr Blick über ihn ins Offene hinaus, darin erweisen sie sich ihm überlegen. Mit dieser epochalen Vermutung setzen sich die Europäischen Literaturtage 2023 auseinander.

Was Bailly in seinem Essay Der Blick der Tiere beschreibt, reflektiert eine sich verändernde Selbstwahrnehmung des Menschen und damit auch ein neues Verhältnis des Menschen zum Tier. Gestützt von neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen spricht man bereits von der vierten Kränkung des Menschen als hemmungslos selbstbezogenes Lebewesen: Nachdem Kopernikus die Erde aus dem Zentrum des Universums rückte, Darwin den Menschen als Ebenbild Gottes desillusionierte und Freud das Seelenleben als dem Menschen weitgehend unbekannt entblößte, stellt nun die Tierethik seit den 1970er Jahren die Frage, ob nicht auch das Tier wie der Mensch eine Würde und damit ein unverbrüchliches Tierrecht besitzt. Die jüngsten Forschungen sprechen dem Tier die Vernunft, die Sprache, das Selbstwahrnehmung, den Blick auf die Zukunft, Leidensfähigkeit und moralisches Verhalten zu. Sie bringen damit die Bastionen des Menschen gegen andere Lebewesen ins Wanken und machen dem Menschen klar, immer weniger vorbringen zu können, wodurch er sich vom Tier unterscheidet. 

Ein Phänomen der neueren Erzählliteratur, das auf den ersten Blick seinen epochemachenden Hintergrund nicht verrät, sind die vielen Haustiere in Romanen und Erzählungen der Gegenwart. Tiere als Protagonisten sind mitverantwortlich für die größten Verkaufserfolge der letzten Jahrzehnte. Als geliebte „Pets“ und kluge Ausreißer sorgen sie für Aufregung wie für Beruhigung und übernehmen eine therapeutische Rolle für zivilisationsgestresste Leser:innen. Ob Pferde, Katzen, Hunde oder exotische Wesen, sie versprechen Entspannung und eine harmonische Lebenswelt.

Seit ihren Anfängen ist die Literatur von Tieren besiedelt, und zwar stets in einer Weise, die mehr über den Menschen als über das Tier zu verstehen hilft. Der Bogen von den alten Mythen bis zur Entdeckung des Unbewussten von Sigmund Freud ist weit gespannt und reicht von tierischen Gottheiten bis zu vermenschlichten Tieren. Tiere fungieren als Stellvertreter der Suche des Menschen nach dem Sinn des Lebens, ob in Gestalt von Fabelwesen, ob als Herausforderung der Wildnis oder als Trostspender, ob als Opfertier oder Feindbild, Metapher der Bedrohung durch das Unbekannte oder verkörperte Weisheit. In religiösen Schriften werden sie tabuisiert und verteufelt, idealisiert und als verehrenswert dargestellt; Tiere stehen für fast alles, was der Mensch nicht versteht. Während Tiere in den alten Mythen als Boten aus der Ober- und Unterwelt auftraten, verbergen sich in der modernen Darstellung der Verwandlung vom Menschen zum Tier zumeist Neurosen und Psychosen. Das Motiv der Verwandlung in ein Tier erzählt von den Abgründen des modernen Menschen, von Isolation und Entfremdung, von der Begegnung mit den eigenen Trieben und der Entwicklung innerer Konflikte.

Auf den zweiten Blick deutet sich hinter der gegenwärtigen Darstellung von Tieren in der Literatur etwas Epochemachendes an. Neben der Darstellung des Tiers als treuem Begleiter des Menschen wurde in den letzten Jahren eine literarische Strömung wichtig, die als Nature Writing Pflanzen, Tiere, ja ganze Ökosysteme in den Mittelpunkt der Erzählungen rückt. Noch jünger ist die Poetik einer anthropozänen Literatur, die ebenso Öko-Thriller, apokalyptische Erzählungen wie auch eine Lyrik und Prosa aus planetarischer Perspektive umfasst. Entstanden ist diese Literatur als Reaktion auf eine Entwicklung der Gegenwartsphilosophie, die seit der Jahrtausendwende vom Anthropozän spricht. Damit gemeint ist unsere Epoche, die nach dem Zweiten Weltkrieg begann und in der der Mensch durch sein Wachstumsverhalten der wichtigste Einflussfaktor auf die biologischen, geologischen und atmosphärischen Prozesse auf der Erde und somit verantwortlich für den Klimawandel geworden ist.

Vor diesem Hintergrund stellen die Europäischen Literaturtage 2023 Bücher der internationalen Gegenwartsliteratur vor, in denen Tiere eine wichtige Rolle spielen. Tiere und andere Menschen lädt internationale Autor:innen und Philosoph:innen dazu ein, sich über Fragen wie diese auszutauschen: Bestehen die über Jahrtausende behaupteten grundsätzlichen Unterschiede zwischen Menschen und Tieren überhaupt? Wie behandeln wir Tiere und wie sollen wir sie behandeln? Dürfen wir Tiere instrumentalisieren? Wie steht es um Tierhaltung, Tierversuche, industrielle Nutzung von Tieren? Entscheidet sich entlang dieser Fragen die Zukunft allen Lebens auf der Erde – nicht zuletzt jene Frage, welchen Stellenwert die technologische Welt in Bezug auf das Leben in Zukunft haben wird? Muss der Mensch sein Verhältnis zu sich selbst neu überdenken? 

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Wie jedes Jahr laden die Europäischen Literaturtage ein interessiertes Publikum dazu ein, nach Krems an der Donau zu kommen und sich ein Wochenende lang mit Autor:innen und Denker:innen über ein Thema unserer Zeit auszutauschen. Für jene, die nicht vor Ort sein können, werden die themenbezogenen Lesungen, Vorträge und Dialoge via Live-Stream auch von Ferne miterlebbar gemacht. Dazu kommen für alle in Krems Anwesenden Bücher-Talks, Performances und Konzerte im Klangraum Krems Minoritenkirche. Inspiration, Literaturgenuss und die Begegnung mit internationalen Gästen bilden das zentrale Anliegen und Angebot. In Kooperation mit kulturkrems verbindet Verborgenes und Erlesenes die Entdeckung von Kulturdenkmälern in Krems mit der Darbietung von regionaler Musik und internationaler Literatur, und gemeinsam mit dem Festival Glatt&Verkehrt bietet Worte und Töne Literatur, Musik und Schauspielkunst auf höchstem Niveau. In Kooperation mit den eljub Europäischen Jugendbegegnungen, dem Jugend Kulturraum Krems und dem Jugendreferat des Landes Niederösterreich findet wieder ein reichhaltiges Lese- und Workshopprogramm in regionalen Schulen statt. Den krönenden Abschluss bildet ein weiteres Mal die sonntägliche literarisch-musikalische Matinee zu Ehren des diesjährigen Preisträgers des Ehrenpreises des österreichischen Buchhandels für Toleranz im Denken und Handeln

Wir laden Sie herzlich ein, dabei zu sein! 

Walter Grond
Künstlerischer Leiter der Europäischen Literaturtage

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