Von Kaugummi Automaten und schönen Mutationen
Mir wurde vollkommene Freiheit bei der Gestaltung dieses Blogs gewährt. Weil, –zumindest hier in Spitz an der Donau, und in Krems und darüber hinaus auf allen kleinen Flecken Erde der malerischen Umgebung, über die sich die Europäischen Literaturtage erstrecken, – die Kunst frei ist. Weil der sympathische Festivalleiter Walter Grond keiner zu sein scheint, der einem Dinge, die man zu tun oder nicht zu tun hat, vorgeben, verlangen, durchboxen will. Kennt man aus Wirtschaft und Politik ja auch anders. Und Walter Grond ist durch seine Tätigkeit mit beiden mehr als nur bekannt. Schüttelt, wie ich mir vorstellen kann, nicht nur Frau Politik und Madame Wirtschaft bei Aperol Spritz oder dem Rotwein der Saison die Hand, er sitzt mit den beiden sicher auch mal länger an einem Tisch. Von mir wollte er nur gute Texte und dass ich meinen Blick auf alles hier Gesehene und Erlebte schildere.
Nun, ich gestehe hiermit offiziell: außer einigen guten Tischgesprächen habe ich von der Arbeit meiner vielen internationalen, manchmal mehr, manchmal weniger wild gestikulierenden Kollegen und Kolleginnen nicht so viel mitbekommen. Ich kam nicht dazu, mir viele Programmpunkte selbst anzusehen, weil ich gestern und heute Workshops an Schulen gegeben habe. Im Rahmen der Europäischen Literaturtage. Was mir, vor allem rückblickend betrachtet, eine wunderschöne, inspirierende und sinnige Aufgabe erscheint. (Vor allem rückblickend, denn auf diese Aufgabe nach vorne blickend war ich nicht ganz ohne Angst und Ehrfurcht.) Und während ich in zwanzig Gesichter von niederösterreichischen Jugendlichen schaute, die mal mit offen stehendem Mund, mal mit schräg sitzender Augenbraue neugierig zum Lehrerpult sahen, wo heute Frau Florian auf dem Programm stand, kam ich nicht umhin, mich an Richard David Prechts etwas sarkastische Kommentare des Vorabends zu erinnern. Wie unsinnig das aktuelle Schulsystem sei, dass es die Menschen normativ erziehe, aber nicht zu eigenständigen Persönlichkeiten und so weiter. (Nacherzählt in Teilen hier)
Wie es um die Bildung der Jungs und Mädchen, die mich mit doch großen Augen anstarrten, steht, kann ich nach zwei Mal fünfzig Minuten über Literatur und Film sprechend nicht beurteilen, aber ich kann mit Sicherheit sagen, dass sie interessiert waren, zugehört und auch Fragen gestellt haben und das hat mich beeindruckt. Und zumindest in Melk an der Donau, denke ich, sollte man sich keine Sorgen machen, dass künftige Generationen nicht mehr wissen, was ein Buch ist und nur noch auf dem Datenstream ins digitale Nirwana surfen. Ein Junge meldete sich, nachdem ich aus meinem Roman vorgelesen hatte und beschrieb die Sprache als besonders bildhaft. Mit seinen Worten natürlich, aber er hatte doch sehr gut zugehört und aus dem Zuhören auch etwas mitgenommen und – ich weiß nicht, wie ich es beschreiben soll und komme mir schlagartig sehr naiv vor, aber ich stehe eben auch nicht oft in meinem Alltag vor der aktuell pubertierenden Generation und rede mit ihr darüber, wie man Texte schreiben, zu schreiben versuchen könnte und sogar damit Geld verdienen kann – und: mir hat das gefallen. Wie der Junge meine Sprache analysiert hat. Die Handzeichen zu zählen, auf meine Frage danach, wieviele der dreizehn- und vierzehnjährigen SchülerInnen ein bis zwei Bücher mit in die Ferien nehmen, war zwar ernüchternd, – ich glaube, es war ca ein Drittel der Klasse, – aber ich kann mir gut vorstellen, dass eine Umfrage zu meiner Schulzeit in den 90er Jahren nicht so unterschiedlich ausgefallen wäre.
An diese Zeit muss ich auch denken, als ich die schmalen Gassen des hübschen Ortes Spitz hinauf schlendere, um mich mehr als viel zu spät zu meinen KollegInnen, vielen anderen TeilnehmerInnen des Literaturfestivals zum Mittagessen auf Schloß zu Spitz zu gesellen. Ich spaziere an einem Kaugummi Automaten vorbei, der Zahn der Zeit hat am Außenmaterial genagt, Kratz- und Witterungsspuren sind zu erkennen, aber das schale Orange des Lackes ist noch gut zu erkennen. Ob er seit den 90er Jahren hier steht oder nicht, man weiß es nicht... Mir kommt nur nach gefühlt etwas zu vielen Smartphone- und E Reader-Debatten und solchen über künstliche Intelligenz am gestrigen Abend (und ja, auch die SchülerInnen habe ich gefragt: „Lest ihr E Reader oder analoges Buch?“) der triumphale Gedanke geschossen: „Vieles hat sich auch nicht verändert.“ Manche Dinge bleiben. In den Gassen von Spitz ist von Technokratie jedenfalls nicht viel zu sehen und das gefällt mir. Der Schuhladen steht neben dem Uhrengeschäft und die Schilder tragen die gleiche Schnörkelschrift seit Jahrzehnten und von „amazon“ und „Google“ ist hier nichts zu spüren. Und ja, der Kaugummi Automat hat es mir und meiner kleinen Nostalgie angetan. Die dutzenden kleineren und größeren wohlgeformten Weinberge, die das ganze Tableau vervollständigen und einen eine seltsame Ruhe spüren lassen, die sich um die Brustwirbel herum breitmacht und die man sich in der Großstadt lebend viel zu selten gönnt, habe ich noch gar nicht erwähnt. Ich bin ganz eingelullt von dieser Stimmung, der Nebel ist da, aber macht nicht traurig, der Morgentau, der bis in die Mittagszeit vorgedrungen ist, stört mich kein Stück, das „Loch-Ness-Wetter“, das rund um Spitz das Literaturfestival seit gestern beherrscht und uns allen dennoch nicht die Stimmung vermiest, passt einfach zur Jahreszeit, wie mir der Fahrer, während er mich heute Morgen in die Schule nach Melk fuhr, erklärte. Schließlich sei der ganze Sommer und auch der Herbst „unüblich warm gewesen.“
Der Tag endet mit einer Lesung von Vea Kaiser, einer der bekanntesten Autorinnen Österreichs, die vor wenigen Jahren mit ihrem Debüt „Blasmusikpop - oder Wie die Wissenschaft in die Berge kam“ innerhalb kürzester Zeit zum Shooting Star der deutschsprachigen Literatur mutierte. Um Mutationen geht es auch an diesem Abend, wie uns die Autorin erklärt, während sie ihre musikalischen Begleiter, zwei sympathische junge Männer vorstellt. Die Band „Sain Mus“ hat es sich selbst zum Ziel gemacht, „nach darwinistischen Prinzipien zu arbeiten“. Kein Song, der nicht ein paar Mal beim Publikum gut angekommen ist, werde im Repertoire behalten, in den gemeinsamen Proben werde ständig gut ausgesiebt, welche Nummern es verdient haben, weiterkomponiert zu werden und welche nicht. Auch Vea Kaisers Leben und Schaffen scheinen ein paar tiefgreifende Verwandlungen erfahren zu haben in der letzten Zeit: stolz erzählt sie uns, dass sie frisch verheiratet ist und davon, dass ihr Debütroman nun bald auch als Film zu sehen sein wird. Auch ihren neuen Roman, der nächstes Jahr erscheinen soll, gibt sie häppchenweise Preis. Von der, wie ich finde sehr kraftvollen Musik des „Sain Mus“ Duos lasse ich mich mit müden Augen etwas davon treiben, sie klingt ein wenig so, wie die Landschaft um Spitz auf mich wirkt: ruhig, rustikal, irgendwo ist immer ein Bächlein oder die Donau gemächlich fließend zu hören. Gegen Ende des Programms schicken uns die beiden aber mit einem Sound nach Hause, der ein bisschen „Mission Impossible“ Soundtracks gleicht und das gefällt mir nicht minder. Den Energieschub habe ich gebraucht, um neugierig auf den baldigen Ausklang der Literaturtage zu blicken.