Europäische Literaturtage 2018 | Tag 1 - Die Eröffnung

Vom Hals einer Giraffe und von Fragen denkender Männer 2.0

Es ist sieben Uhr Abends und wir stehen kurz vor der Eröffnung der Europäischen Literaturtage 2018. Wir - das sind fast 40 verschiedene AutorInnen, FilmemacherInnen, Lektoren und Lektorinnen, ein paar Kulturschaffende und JournalistInnen, die sich im Restaurant „Salzstadl“ in Krems eingefunden haben, um sich auf das schon ersehnte Abendessen zu stürzen. Viele sprechen Deutsch, manche Englisch. Es schmeckt und man erzählt. Die Tischgespräche kreisen um Fragen nach dem eigenen  Lese-  und Streamverhalten. „Liest Du mehr auf dem E Reader?“ - „Oder analog?“ - „Ich brauche die Haptik!“ - „Nein, das E Book Licht ist nicht schädlich für die Augen.“ Die Gesellschaft liest und schaut und schafft kulturelle Werke, aber es gibt schon Studien zum Konsumverhalten eben dieser Werke. Den Menschen der Moderne scheint es schwerer zu fallen, für längere Zeit den Fokus auf etwas gerichtet zu behalten. „Das gründlichere Lesen, das langsame Lesen, nur um des Lesens willen ist weniger geworden. Das ist erwiesen“, sagt eine Lektorin. „Man checkt den Text schnell durch.“ Und man ließe sich leichter ablenken von anderen Dingen auf dem iPad beispielsweise - wenn man denn „digital liest“. Eine Email oder Nachricht kommt rein - und der Lese- (und Denkfluss!) ist schon unterbrochen! 

Wieviel Zeit wird vergehen, bis meine Hand von der Gabel in meine Tasche hinein greift, um mein Telefon rauszuholen und etwas nachzusehen? Ich rede mir ein, dass ich es nur tue, um auf die Uhr zu sehen. Es ist sicher schon spät, gleich werden wir zur Minoritenkirche rüber wandern, ein paar Minuten nur über feuchtes Kopfsteinpflaster, um der Eröffnungsveranstaltung der Europäischen Literaturtage beizuwohnen. Ein junger Mann am Tisch erzählt, woher er angereist ist. „Du hast die Umwelt zerstört!“ ruft eine Autorin. Sie wird sogleich aufgeklärt: der Mann ist mit dem Zug angereist. Nicht so schlimm also. Fast wie auf Anweisung eines stummen und vor allem unsichtbaren Regisseurs im Raum knüpft daran ein Dialog über Kreuzfahrtschiffe an, Schiffe, die in der Gegend von Krems auf der Donau unterwegs sind und die Umwelt verpesten. Jemand tut zwischen den letzten Bissen von seinem Kartoffelsalat kund: „Am liebsten sind mir die Künstler, die Projekte über Umweltzerstörung machen und mit diesen Projekten oder für sie durch die Gegend fliegen.“ Es herrscht ein Bewusstsein für unsere Welt und ihre Beschaffenheit im Jahr 2018 - „die Probleme und Herausforderungen unserer Zeit“ könnte man gesellschaftspädagogisch auch sagen. Doch was kann Frau/Mann, die/der denkt und schreibt und an Panel Diskussionen teilnimmt an alledem ändern? Frage ich mich still und heimlich, um der Überleitung dieses Textes hin zum nächsten Absatz seine Absolution zu erteilen.

Ich springe, weil das in Gedanken möglich und schön ist, und dies ist kein von einem Computeralgorithmus durchkomponierter Text, weil ich denken und Zusammenhänge herstellen und mir neue Dinge ausdenken kann oder auch alte, aber sie entspringen den Synapsen meines eigenen Gehirns. Ähnlich abgedreht wie mein eben vollbrachter Sprung und manchmal auch asynchron und in einer irren, eine Achterbahn beschreibenden Verlaufsform der Gedankengänge erscheinen mir viele der Überlegungen der beiden Dialogführenden auf der Bühne in der schön blau eingeleuchteten Minoritenkirche in den nächsten beiden Stunden. Der Saal ist gut gefüllt mit älteren Menschen, aber es finden sich auch Mütter mit ihren Kindern und eine Schulklasse im Publikum.

Die Dialogführenden sind Robert Menasse und der im deutschsprachigen Raum wohl aktuell bekannteste Philosoph und Buchautor Richard David Precht. Die beiden fragen sich nicht mehr und nicht weniger als „was unsere geistige Welt zusammenhält“. „Wie wird unsere Welt gebildet“ lautet der Titel des Abends. Dies impliziert die Frage nach Bildung in der Welt, in unserer Gesellschaft und wie man diese kreiert. Weniger weltlich fallen die Antworten auf diese Fragen aus: Precht und Menasse schaffen es in einem Dialogverlauf, der unmöglich nachskizziert werden kann, bei der Sinnlosigkeit des langen Halses einer Giraffe (der er im Laufe der Evolution geworden ist aber auch einfach so, als Hals an sich, der er ist und es bleibt bis heute) ihren Diskurs zu beginnen, bei Kant und Hegel vorbei zu segeln, um wieder einen Salto in das Reich der Alten Griechen zurück zu wagen, die Fragen nach der modernen Technokratie China und ihren Druck, das Wirtschaftswachstum nicht unter die Zehn Prozent Hürde sinken zu lassen, zu streifen – um bei der endlich konkretesten Frage zum Landeanflug anzusetzen: wie ist unser aktuelles Bildungssystem im deutschsprachigen Raum bis in die universitäre Laufbahn hinein zu beurteilen? Wo fault es im System und wo krankt es schon richtig, wie ist der Virus, wenn er denn erkannt wurde, zu behandeln? Hier hat Precht ein paar konkrete Tipps, gibt zur Veranschaulichung auch Anekdoten aus dem Schulalltag seines Sohnes Preis und das Publikum lacht nicht selten - da steckt vermutlich ein schwer zu leugnender Wiedererkennungseffekt dahinter. Eine kurze Analyse des dem Menschen eigenen Narzissmus, getarnt als social media Verhalten unserer Gesellschaft folgt. Precht gibt zu bedenken, dass wir wohl immer schon so eitel waren, die Echokammern nur größer und leichter handhabbar geworden sind in den letzten Jahrzehnten.

Ich persönlich kann zu Ende der Diskussion gar nicht konstatieren, ob hier zu Kulturpessimismus oder zu -optimismus angemahnt werden soll, ob überhaupt irgend etwas soll - das wiederum gefällt mir - eins wird mir nur schleichend klar: das Denken wird so bald nicht verlernt werden, diese künstliche Intelligenz, die weitreichend und flächendeckend jedes Jahr von Neuem ankündigt, die Weltherrschaft übernehmen zu wollen, kann dem homo sapiens erectus 2.0. noch nicht das Wasser reichen. Hier wird kontrovers und dialektisch gedacht und das Publikum hört zu und ich bilde mir gar ein, nur einmal ein Handy geklingelt haben zu hören. Okay, die Frau in der Reihe vor mir hat durch ihr Smartphone gescrollt, als Richard David Precht dabei war, zu erläutern, dass das Mittelalter gar nicht so eine düstere Zeit war, wie alle Bildungsbürger bislang geglaubt hätten, aber sie war eine Ausnahme. Ach, ich hatte Marx noch vergessen. Zu Marx haben Richard David Precht und Robert Menasse auch einen geistigen Segelturn unternommen. Unsere Gedankenwelt sei nicht ganz unfrei vom Ökonomischen. Das habe Marx schon richtig erkannt. Euphorisch setzen die beiden ihrer Diskussion ein Ende, nicht ohne der neben der Lust am Denken mindestens so schönen Beschäftigung unseres kleinen menschlichen Lebens zu huldigen: dem Genuss. Sie stoßen an mit gefüllten Rotwein Gläsern, weil, so Precht: „Die Welt leichter wird, wenn man spürt, wie sie sich dreht.“ Das Zitat stammt natürlich nicht von Precht, er hat es nur weitergegeben. Wiedergegeben. Rezitiert. Von wem aber stammt der Spruch im Original? Google ich jetzt nicht. 

llinca Florian

Ilinca Florian, geb. 1983 in Bukarest, lebt heute in Berlin, ist eine deutschsprachige Schriftstellerin. Sie arbeitete für das Berliner Grips-Theater und ist Regisseurin von Kurz- und Dokumentarfilmen. Im Frühjahr 2018 erschien ihr erster Roman Als wir das Lügen lernten.

»Wer Ilinca Florian liest, weiß: gegen Familie hilft nur Prosa, und gegen den Aberwitz der Zeitgeschichte helfen starke, leise Bilder.«
DANA GRIGORCEA
Alle Beiträge von llinca Florian

Mein Besuch

0 Einträge Eintrag

Voraussichtliche Besuchszeit

Liste senden