Arno Camenisch and Dana Grigorcea are two leading voices for young Swiss literature. They both enjoy a good reception with the audience, and this is also because of their communicative appeal. On the other hand, at a first glance they have few literary affinities in common. While Dana Grigorcea grew up in Romania and only arrived in Zurich after her graduation in Brussels and elsewhere, Arno Camenisch is a Swiss national who spent his youth in a mountain valley in the Grisons. His home village, Tavanasa, is in a region where the boundaries are fluid between the Rhaeto-Romance dialect and German.
In his second novel “Behind the Station” (2014), Camenisch reminiscences about this creative hotchpotch of languages and the countless “Grüschs” (German: “Geräusche”, or “noises”) which the high-spirited young rascal listened to intensely. His book also realistically blends regional dialect and traces of Romansh in German by reproducing them onomatopoeically. So, we find “Pietigott” (German: “Behüte Gott”, or “God forbid!”) and “orvuar” (Au revoir). This creates a lively narrative tone that also makes the past and carefree childhood days become audible.
Now, for a change of scene: a young woman travels with friends by car across Bucharest. Dana Grigorcea describes the scene in her latest, second novel “Das primäre Gefühl der Schuldlosigkeit” (2015). The woman has returned from Switzerland to work here in her home town. Due to a setback, she suddenly has plenty of time to rediscover the city of her childhood. She encounters old songs and jokes; she remembers the childish light-heartedness and recounts cheerful anecdotes, yet below the surface they conceal a tangible, dark episode.
Dana Grigorcea and Arno Camenisch evidently confront a typical theme for young Swiss literature: the recovery of childhood experience. This theme forms a common bond between them; and they share a second, indirect connection. In their poetical works, they bridge a linguist-cultural divide that today still has a profound influence on their personal biographies. This is already expressed in their debut works with surprising effect.
In “Sez Ner” (2009), Camenisch develops a poetical simultaneous action by narrating a story in parallel in Romansh (on the left-hand pages) and in German (on the right-hand pages). The same story is told twice, yet the two versions are differentiated – and what is more, they accompany and complement each other. The story is narrated in short bursts of prose that describe four Alpine herdsmen who live and work for a summer on Alp Stavonas at the foot of Mount Piz Sez Ner. It is beautiful in the mountains, but also steep and perilous, as Camenisch evokes Alpine self-consciousness, which essentially has long been superseded by modern ways of living. Poetically and with refreshing irony, he averts the old myths of mountain life.
Mythical references also play a key role in Dana Grigorcea’s debut novel “Baba Rada” (2011). Set in the Romanian Danube delta, an impoverished, marginal region, Baba Rada yearns for the happiness of her albino daughter with a concoction of schnapps and magic. But a mysterious terrorist causes confusion.
The novel is difficult to grasp because it is constantly transforming. The “magnificent barbarianism” is presented as a wild mix of fables, rumours and coarseness that only meets with happiness by hearsay. A fine mist lays over everything, casting things in twilight and they only gain some definition thanks to the lively language. Grigorcea’s burlesque storytelling emerges from the Danube delta like Baba Rada’s belches, “when I have drunk this Russian, alcoholic shampoo.”
“Sez Ner” like “Baba Rada” are genuine masterworks with ruses aplenty, and they demonstrate the poetic exuberance of both writers. Dana Grigorcea and Arno Camenisch have risked something, by capturing on the one hand the myths of their homelands and, on the other, the linguistic-cultural differences with delightful poise and originality.
Translated by Suzanne Kirkbright
Arno Camenisch: Sez Ner. Prose. Romansh and German. Urs Engeler Editor, Basel 2009.
— The Alp. Translated by Donald McLaughlin, Dalkey Archive Press 2014.
Arno Camenisch: Hinter dem Bahnhof. Engeler Verlag, Holderbank 2010.
— Behind the Station. Translated by Donald McLaughlin, Dalkey Archive Press 2014
Dana Grigorcea: Baba Rada. Das Leben ist vergänglich wie die Kopfhaare. Zürich: KaMeRu Verlag, 2011.
Dana Grigorcea: Das primäre Gefühl der Schuldlosigkeit. Dörlemann, Zürich 2015.
Camenisch und Grigorcea
Poetische Schelmenstücke
Arno Camenisch und Dana Grigorcea sind zwei wichtige Stimmen der jüngeren Schweizer Literatur. Ihnen gemeinsam ist ihr Erfolg beim Publikum, der auch mit ihrem kommunikativen Charme zu tun hat. Die literarische Verwandtschaft ist dagegen nicht auf den ersten Blick zu erkennen. Während Dana Grigorcea in Rumänien aufwuchs und erst nach Studienjahren u.a. in Brüssel nach Zürich fand, ist Arno Camenisch ein gebürtiger Schweizer, der seine Jugend in einem Bergtal in Graubünden verbracht hat. Sein Heimatdorf Tavanasa liegt allerdings in einer Region, in der die Grenzen zwischen rätoromanischer und deutscher Sprache fliessend sind.
In seinem zweiten Roman „Hinter dem Bahnhof“ (2010) erinnert sich Camenisch an dieses kreative Mischmasch der Sprachen und an die vielen „Grüschs“ (Geräusche), die der übermütige Lausejunge mit grossen Ohren einfing. So wie in der Wirklichkeit mischt auch sein Buch regionalen Dialekt und romanische Einsprengsel in die deutsche Sprache und gibt sie dementsprechend lautmalerisch wieder: "Pietigott" (Behüte Gott) heisst es da, und "orvuar" (Au revoir). Auf diese Weise entsteht ein lebhafter Erzählton, der die vergangene und verwegene Zeit der Kindheit auch hörbar macht.
Szenenwechsel: Eine junge Frau fährt mit Freunden im Auto quer durch Bukarest. Dana Grigorcea beschreibt es in ihrem jüngsten, zweiten Roman „Das primäre Gefühl der Schuldlosigkeit“ (2015). Die Frau ist aus der Schweiz in die Heimatstadt zurückgekehrt, um hier zu arbeiten. Wegen eines Malheurs hat sie auf einmal viel Zeit, um die Stadt der Kindheit neu zu entdecken. Dabei begegnet sie alten Liedern und Witzen, sie erinnert sich an kindliche Unbeschwertheit und erzählt muntere Anekdoten, hinter denen unterschwellig eine dunkle Geschichte spürbar wird.
Dana Grigorcea und Arno Camenisch beschäftigen sich mit einem offenkundig typischen Thema der neueren Schweizer Literatur: der Rückgewinnung der kindlichen Erfahrung. Darin liegt eine Gemeinsamkeit. Unter der Oberfläche verbindet sie etwas Zweites. Sie überbrücken poetisch eine sprachlich-kulturelle Differenz, die ihre eigene Lebensgeschichte bis heute intensiv prägt. Schon in ihren Erstlingen kommt dies mit verblüffendem Effekt zum Ausdruck.
In „Sez Ner“ (2009) entwickelt Camenisch eine poetische Simultanaktion, indem eine Geschichte parallel auf rätoromanisch (auf den Seiten links) und deutsch (auf den Seiten rechts) erzählt. Dieselbe Geschichte wird so doppelt wiedergegeben, dennoch unterscheiden sich die Versionen, vielmehr begleiten und ergänzen sie sich. Inhaltlich geht es in den kurzen Prosapartikeln um vier Sennen, die gemeinsam einen Sommer lang auf der Alp Stavonas am Fuss des Piz Sez Ner leben und arbeiten. Es ist schön in den Bergen, aber auch steil und gefährlich, beschwört Camenisch das alpenländische Selbstverständnis, das im Grunde längst von der Moderne überholt worden ist. Er bannt die alten Mythen der Bergwelt mit erfrischender Ironie und auf poetische Weise.
Mythische Bezüge spielen auch in Dana Grigorceas Erstling „Baba Rada“ (2011) eine zentrale Rolle. Situiert im rumänischen Donaudelta, einer verarmten Randregion, wünscht sich Baba Rada das Glück ihrer Albino-Tochter mit Schnaps und Magie herbei, doch ein mysteriöser Terrorist bringt alles Durcheinander. Der Roman ist nur schwer zu greifen, weil er sich immer wieder verwandelt. Die „herrliche Barbarei“ präsentiert sich als eine wilde Mischung aus Mären, Gerüchten und einer Derbheit, die das Glück nur vom Hörensagen kennt. Über allem liegt ein feiner Nebel, der alles ins Zwielicht setzt und lediglich durch die lebhafte Sprache etwas Kontur erhält. Grigorceas burleske Flunkereien steigen aus dem Donaudelta auf wie Baba Radas Rülpser, „wenn ich dieses russische, alkoholhaltige Shampoo getrunken habe“.
„Sez Ner“ wie „Baba Rada“ sind veritable Schelmenstücke, die den poetischen Übermut der beiden Autoren demonstrieren. Dana Grigorcea und Arno Camenisch haben etwas gewagt, indem sie die Mythen der Heimat einerseits, die sprachlich-kulturellen Differenzen mit charmanter Souveränität und Originalität eingefangen haben.
Arno Camenisch: Sez Ner. Prosa. Romanisch und Deutsch. Urs Engeler Editor, Basel 2009.
— The Alp. Translated by Donald McLaughlin, Dalkey Archive Press 2014.
Arno Camenisch: Hinter dem Bahnhof. Engeler Verlag, Holderbank 2010.
— Behind the Station. Translated by Donald McLaughlin, Dalkey Archive Press 2014
Dana Grigorcea: Baba Rada. Das Leben ist vergänglich wie die Kopfhaare. Zürich: KaMeRu Verlag, 2011.
Dana Grigorcea: Das primäre Gefühl der Schuldlosigkeit. Dörlemann, Zürich 2015.