Weite Sicht | Europa nach Corona | 25.6.2020

Neben den Diskussionen über die aktuelle Krisenbewältigung rückt dabei langsam die Frage in das Blickfeld, wie Europa nach den Corona-Zeiten aussehen wird. Wie wird es um die europäische Integration stehen, wie um die Idee einer Solidargemeinschaft und die Vorstellung einer gemeinsamen Kultur?

Weite Sicht
von Alexander Peer

Eine Deutung von Europa lautet „die Frau mit der weiten Sicht“*. Diese Frau ist gefragt. Zu sehr erleben wir eine Omnipräsenz des Aktuellen und eine Anbetung der Zahl. Das Wasser der News steht uns nicht mehr nur bis zum Hals, wir versinken vielmehr darin und so unsere buchstäblichen Perspektiven. Das Coronavirus lässt sich als ominöses schwarzes Loch verstehen. Wenn man der physikalischen Theorie vertraut, ist ein Gegenstand bei Überschreiten des Ereignishorizontes verloren. Das gilt auch für Gesprächsgegenstände.
Damit soll sicher nicht einer differenzierten Berichterstattung die Bedeutung abgesprochen sein. Sie soll lediglich Platz für ausholende Betrachtung lassen.
Als ich in den 1980er Jahren ein Schulkind war, gebrauchte man das Wort „Zeitzeuge“ ausschließlich für den Zweiten Weltkrieg und insbesondere den Holocaust. Die Verbrechen beider Weltkriege, die Ernüchterung über die enormen Verletzungen, die sich der Mensch wider besseres Wissen letztlich selbst zufügte, prägt die europäische Befindlichkeit bis heute. Erst als Erwachsener ist mir klarer geworden, dass auch ich Zeitzeuge einer Zäsur war. Das Ende des geteilten Europas erlebt zu haben, ist eine Erfahrung, die beispielsweise den Millenials versagt blieb. Sie erleben zwar jetzt Grenzziehungen, aber die grundsätzliche Verschiedenheit des tatsächlich über Jahrzehnte verschlossenen und immer im Visier der beiden Blockmächte zitternden Europas lässt sich am besten im Erzählen vermitteln. Durch Menschen etwa, deren Familien getrennt lebten, und erst mit 40 Jahren ins benachbarte Ausland reisen durften. Denn Kulturen kann man studieren, Menschen jedoch muss man erleben. Jetzt liegt es an der Generation der 20 bis 30-Jährigen, sich diese Errungenschaft der Freiheit zu bewahren.

Offensichtlich droht eine neue Diskriminierung. Sie verläuft nicht entlang der ethnischen Zuordnung, sondern der medizinischen. Erst die App, dann der Chip. Es überzeugt scheinbar, einen Chip als treuen Gefährten im Körper zu haben, der den Puls überwacht und die Fieberkurve misst. Dass ich dadurch meinen Beruf verliere, ich keine Lebensversicherung erhalte oder sich mein Partner abwendet, weil die Menge meiner roten Blutkörperchen bedenklich ist, sind Kollateralschäden. Technologischer Wandel greift immer tiefer. Wenn ich Diabetiker bin und regelmäßig den Zuckerhaushalt prüfen muss, dann bleibe ich so in Kontakt mit meinem Körper. Jede Delegation an eine Technologie ist eine Einbuße an Bedürfnisbefriedigung. Der Aufwand, der zu leisten ist, ist ein Beitrag zur Beziehungspflege. Höhere Convenience und Sicherheit ist verbunden mit schleichender Degeneration.

Gleichzeitig erfährt der mit Übergeschwindigkeit dahinbrausende Technologiezug zweierlei: noch mehr Beschleunigung und eine empfindliche Betriebsstörung. Wenn ein Subversiver bloß wenige Nanometer groß ist, versagen selbst Überwachungssysteme. Diese Ohnmacht ist heilsam. Wir dürfen endlich wieder trauern. Es ist uns von Amts wegen erlaubt. Das Diktat der Kontrolle über den Planeten und das Selbst-Diktat des Funktionierens wird zumindest temporär ausgesetzt.
Nach dem ersten Schock ist die Chance greifbar, eine europaweite Gesundheits- und Sozialpolitik zu entwickeln, die Fiskalpolitik zu vereinheitlichen und wirtschaftsliberale Haltungen zu adaptieren. Wenn Gesundheit und soziale Sicherheit künftig harte Standortfaktoren sind, erfährt Europa gar einen Braingain im Wettbewerb um Talente. Die Aufwertung von Entwicklung und Forschung erfährt kein wirkmächtigeres Plädoyer als durch das Virus. Die fünfte Gewalt im Staat, die Kunst, kann sich jetzt profilieren. Denn in einer Epoche der Verwirrung braucht es Fantasie, Verdichtung und geistige Wendigkeit. Alle Kunstdisziplinen – so formal und inhaltlich unterschiedlich sie sein mögen – fördern diese Qualitäten. Die wünschenswerte Werteverschiebung, die auf Corona folgen könnte: Endlich ressourcenschonendes, respektvolleres Wirtschaften und verstärkte staatliche Grundaufgaben. Viel mehr Stakeholder-Value statt Shareholder-Value.
Der gemeinsame Feind kann Europa einen. Bewahren wir uns dafür die weite Sicht.


* https://www.etymonline.com/word/Europe  (* Innerhalb des Griechischen lässt sich der Name als Kompositum aus ....., eur.s, „weit, breit“, und .., óps, „Sicht, Gesicht“ verstehen – ....π. (Eur.p.), woraus sich die Bedeutungen „die mit der weiten Sicht“ oder „die Breitgesichtige“ ergäben. Daneben gibt es noch andere etymologische Erklärungen.)  


Wir haben gemeinsam Projekte verwirklicht, haben unsere Erkenntnisse durch Kooperation vermehrt und durch den kulturellen Austausch so viel voneinander erfahren, wie kaum eine europäische Generation vor uns. Daran soll eine postcorona-Epoche anknüpfen. Ein solches Anliegen verband ich im Übrigen mit der Herausgabe der Anthologie „Schreibende Nomaden entdecken Europa“, einer Textsammlung, die alle vier Wörter des Titels programmatisch versteht und miteinander in Beziehung setzt. Denn das Entdecken ist eine attraktive Qualität, die ich mit dem Europäischen Geist assoziiere. Das führt zu Medikamenten für medizinische (Not)-Fälle auf der einen und zu Arzneien für ein stimmigeres Zusammenleben auf der anderen Seite.

Alexander Peer

Text von: Alexander Peer
elit Literaturhaus Europa ladet europäische Autorinnen und Autoren dazu ein, diesen Blick unter dem Eindruck der Krise zu wagen. Diese Texte erscheinen ab 23. April 2020 wöchtentlich hier:

Alexander Peer geb.  1971 in Salzburg, Studien in Germanistik, Philosophie und Publizistik. Peer lebt heute als freier Autor & Journalist in Wien. www.peerfact.at
Bücher u.a.: „Schreibende Nomaden entdecken Europa“, Limbus 2019. Zahlreiche Essays und Beiträge über Literatur, Philosophie und Architektur. Er erhielt einige Preise und Stipendien.

Alexander Peer b.  1971 in Salzburg, studied German language and literature, philosophy and journalism. Peer now lives in Vienna as a freelance writer and journalist. www.peerfact. at
Books include: “Schreibende Nomaden entdecken Europa”, Limbus 2019. Numerous essays and articles on literature, philosophy and architecture.

Alexander Peer geb. 1971 in Salzburg, Studien in Germanistik, Philosophie und Publizistik. Peer lebt heute als freier Autor & Journalist in Wien. www.peerfact.at
Bücher u.a.: „Schreibende Nomaden entdecken Europa“, Limbus 2019. Zahlreiche Essays und Beiträge über Literatur, Philosophie und Architektur. Er erhielt einige Preise und Stipendien.

Alexander Peer b. 1971 in Salzburg, studied German language and literature, philosophy and journalism. Peer now lives in Vienna as a freelance writer and journalist. www.peerfact. at
Books include: “Schreibende Nomaden entdecken Europa”, Limbus 2019. Numerous essays and articles on literature, philosophy and architecture.

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