Daniela Emmingers Bericht über die Europäischen Literaturtage 2020

 


WILDNIS # TAG 1 TEIL 1

Donnerstag, 19. November 2020

Wildnis. WILDNIS! Als steckten wir zur Zeit nicht ohnehin mitten drin. In einem Dschungel aus Unbekanntem, Unerwartetem, vielleicht auch Beängstigendem. Und doch ist Wildnis auch durchaus positiv konnotiert: mit Stärke, Unverwüstlichkeit, Pioniergeist, Hoffnung (– nicht nur die Flora ist grün).

So oder so, könnte das Thema der Europäischen Literaturtage 2020 aktueller nicht sein. Und ich, Daniela Emminger, habe die Ehre und das Vergnüngen, mich in den nächsten vier Tagen immer mal wieder wild und ungestüm zu Wort zu melden.

Ganz ehrlich, ich freue mich darauf: auf viele spannende Diskussionen und Lesungen mit namhaften AutorInnen-Kollegen aus aller Welt. Und einfach auch auf die Tatsache, dass endlich wieder, (wenn auch online), philosophischer Austausch und literarische Unterhaltung stattfinden, ein Stück Normalität einkehrt, die einen die Welt rundherum für eine Stunde oder auch zwei vergessen lassen.

Wildnis kann so vieles sein. Im altehrwürdigen Wörterbuch der Gebrüder Grimm steht sie für “üppigwuchernde Fülle, hemmende Noth, geistige Verwirrung”. Bei Henry David Thoreau heißt es: “Die Wildnis ist es, die die Welt bewahrt”. Und, ganz aktuell, erzählen heute Abend Ariadne von Schirach und Robert Menasse – live aus Berlin und Wien – wie sie Wildnis verstehen.

In diesem Sinne: Lassen Sie uns gemeinsam ungezähmt, unschuldig, ja vielleicht sogar wildromantisch sein! “Komm ins Offene, Freund, und lerne das Staunen”.

Donnerstag, 19.11.2020, 19.30 Uhr
Livestream Vortrag und Dialog:
https://www.youtube.com/watch?v=K9wB--JUo1Y

WILDNIS # TAG 1 TEIL 2
Donnerstag, 19. November 2020

Zu Beginn, ein kurzer, berührender Moment, als Robert Menasse, wie jedes Jahr, das Publikum fotografiert. Nur, dass heuer die Minoritenkirche in Krems menschenleer ist. Wie viele Straßen in Wien. Öffentliche Plätze in Paris. Oder Gebäude in ganz Europa.

Unterschiedlicher hätten die beiden Diskussionspartner der heutigen Auftaktsveranstaltung der Europäischen Literaturtage nicht sein können. Auf der einen Seite, Robert Menasse, bekennender “Freund der Ordnung”, der mit “unbewusster”, innerer Wildnis wenig anzufangen weiß, auf der anderen, Ariadne von Schirach, die sich der Wildnis in Zeiten von Corona und Klimawandel beinahe lyrisch nähert.

Absolutes Highlight: ihr 10-minütiger Impulsvortrag “Komm ins Offene, Freund, und lerne das Staunen” (– übrigens bis 22.11. noch online abrufbar –), in dem eine feinsinnige Metapher die nächste jagt: Wildnis – der Ort, an dem man sterben kann, Wildnis – das Unzugängliche der eigenen Seele, der Marschbefehl ins Unbewusste, das Fremde im Vertrauten, die Verletzlichkeit allen Lebens.
Ein Plädoyer für neues Handwerkszeug, neue Landkarten, neue Fähigkeiten, damit wir in Zeiten wie diesen das Überleben lernen, lernen, wie es sich mit Verlust leben läßt. “Wir können, wir dürfen nicht rasten, nicht ruhen”, sagt sie, im festen Glauben, dass Wildnis uns mehr verbindet als trennt.

In der Sekunde will ich mehr von der, 1978 in München geborenen, Autorin und Philosophin hören und lesen! Ihren Essay “Der Tanz um die Lust“, 2007 bei Goldmann als Buch erschienen, kenn ich schon, nicht aber „Du sollst nicht funktionieren“ (2014), „Ich und du und Müllers Kuh“ (2016) oder „Die psychotische Gesellschaft. Wie wir Angst und Ohnmacht überwinden“ und den Essay „Lob der Schöpfung. In Verteidigung des irdischen Glücks“ (beide aus 2019). Als hätte sie Corona vorausgeahnt...

Für Online-Literaturliebhaber noch ein weiterer Tipp: Seit 2009 veröffentlicht Ariadne von Schirach auf Twitter jeden Wochentag ein Wettergedicht unter: ariztweet. Heute ist da zu lesen: „Grauer Himmel/Wolken eilen/Krähen auf dem/Dach verweilen”

Schlafen Sie gut. Vielleicht bis morgen, Daniela Emminger

***

WILDNIS # TAG 2 TEIL 1
Freitag, 20. November 2020

9.30
Allen, die es heute früh um 9 Uhr nicht zu den Lesungen und Gesprächen von und mit Polly Clark und Dan Richards geschafft haben, sag ich nur: nachholen! Die britisch-kanadische Lyrikerin Polly Clark hat sich für ihren Roman “Tiger” (2020) mal eben in die russische Taiga abgesetzt, einen Catman engagiert und sich auf die Jagd nach sibirischen Tigern begeben. Die verfügen nämlich über ein besonders ausgeprägtes Rache-Gedächtnis und vergessen ihre Feinde selbst nach Jahren nicht. Die Romanstory will ich nicht spoilern, aber soviel sei verraten: der Leser ist mitten drin in der Wildnis.

Der britische Nature-Writer Dan Richards zeigt sich nicht minder abenteuerlustig und ist für sein neues Non-Fiction-Werk “Outpost – A Journey to the Wild Ends of the Earth“ (2020) um die halbe Welt gereist. Sein Ziel: außergewöhnliche Menschen und ihre Geschichten einzufangen.

Vielleicht berühren mich die beiden deshalb so sehr, weil sie mir im Denk- und Schreibprozess ähnlich sind. Sich physisch wie gedanklich mitten hineinstürzen in eine Fremde, in unbekanntes Terrain – sei es nun ein Tigerkopf, eine Bärenexistenz oder, wie in meinem Fall, ein Braunauer Gorillafell. Ich denke, man hört es einem Text an, wenn es um die Suche nach wilder Wahrheit und ums nackte Überleben geht. Clark sagt, dass uns das Fremdsein näher zu uns selber bringt. Richards ergänzt: “Going out is often going in”.

Das Ganze wirklich lovely moderiert von der britischen Journalistin Rosie Goldsmith, die den AutorInnen genügend Raum lässt, es nicht nötig hat, sich selbst zu profilieren.
Mann, fühl ich mich verstanden!

11.30
Heute geht’s Schlag auf Schlag. Mit wirklich fantastischen AutorInnen und ihren Büchern über die Wildnis weiter. Eben habe ich Fabio Andina und seinen Roman „Tage mit Felice“ (2020) kennengelernt. Eine Geschichte der Langsamkeit und Demut, oder konkreter, über einen alten Mann, der jeden Morgen, jeden Abend, Sommer wie Winter, einen Berg besteigt, um weit oben in einer Gumpe ein Bad zu nehmen. Mit dieser, übrigens wahren, Legende hat Andinas Geschichte vor zwanzig Jahren angefangen. Und über das Buch hinaus sein eigenes Leben nachhaltig verändert. Er brauche nicht mehr viel um glücklich zu sein, erzählt der 1972 geborene Schweiz-Italiener, führe ein recht zurückgezogenes, minimalistisches Leben. Ich kenne es noch nicht, sein Buch. Bestimmt aber klingt es so schön leise wie er.

Und dann Miek! Miek Zwamborn, 1974 in den Niederlanden geboren. Eine einzige Feenerscheinung in Gedanken, Worten und (ihren) Werken. Seit dem Kindesalter versucht die umtriebige Fotografin, Autorin, Aktivistin und bildende Künstlerin schon die Wildnis zu begreifen. Und in dieser Wildnis sich selbst. Sie hat sich in Steine und Seegras verliebt, und zwar so sehr, dass sie dafür erst in die Schweiz und später nach Schottland gezogen ist. Und so ist es auch nicht weiter verwunderlich, dass ihr letztes Buch den Titel „Algen: Ein Portrait“ (2019) trägt. Hier begibt sie sich auf Spurensuche dieser Wunderpflanzen und (er)findet ganz nebenbei Geschichten, in denen sich „das Unscheinbare mit dem Gewaltigen, das Persönliche mit dem Historischen und das Naheliegende mit dem Abseitigen verbindet“. Und wenn Zwamborn nicht gerade mit Schreiben beschäftigt ist, sammelt sie eben Würmer oder abgefallene Regenschirmkappen, befreit den hausnahen Strand von Plastikmüll und macht einfach auf ihre bezaubernde Art und Weise die Welt ein bisschen besser.

Wenn ich einen Wunsch frei hätte, würde ich gerne mit dem veganen Andina bei Miek zuhause Seegras essen. Wobei, es würde mir schon genügen, dabei das Wölkchen am Himmel zu sein.

WILDNIS # TAG 2 TEIL 2
Freitag, 20. November 2020

14:30
Mit so einem dunklen und gleichzeitig erhellenden Lesestoff hab ich heute Nachmittag nicht gerechnet. Auf der “Online-Lesebühne” der Europäischen Literaturtage sind gleich zwei Meisterstücke afrikanischer Kolonialgeschichte gelandet, die bizarrer und spannender nicht hätten sein können.

Fangen wir mit der 1971 geborenen Autorin Petina Gappah aus Zimbabwe an, deren Lebenslauf mindestens so beeindruckend ist wie die Geschichte, die sie in ihrem Roman “Aus der Dunkelheit strahlendes Licht” (2019) erzählt. Was sie alles geschafft und (mit)erlebt hat, geht sich eigentlich in hundert Jahren nicht aus: Apartheit, Studium und internationale Karriere in Rekordzeit, (– den Doktortitel hat sie, by the way, in Graz gemacht –), und mit 30 kam dann auch noch das literarische Schreiben dazu. “Aus der Dunkelheit strahlendes Licht” erzählt die unglaubliche Geschichte des schottischen Missionars und Afrikaforschers David Livingstone, der 1873 auf der Suche nach den Nilquellen stirbt, und dessen Leichnam in der Folge von 69 treuen Gefährten einmal quer durch Afrika geschleppt wird, damit er in seiner Heimat Frieden finden kann.

Inhaltlich noch bizarrer gestaltet sich aber Gergely Péterfy’s Werk “Der ausgestopfte Barbar” (2016), der die Geschichte des afrikanischen Kindersklaven Angelo Soliman erzählt, der um 1720 als Siebenjähriger an Fürst Johann Georg Christian von Lobkowitz nach Wien verschenkt wird. Dieser erklärt Soliman kurzum zu seinem persönlichen “Zivilisations-Experiment” und ermöglicht ihm Zugang zu Bildung und zur High Society. Tatsächlich pflegt der Ausnahme-Afroösterreicher schon bald Beziehungen zu vielen namhaften Größen seiner Zeit. Und doch bleibt er aufgrund seiner Hautfarbe eine ewige Jahrmarkts-Attraktion. Nach seinem Tod landet Soliman ausgestopft in einer Glasvitrine im Hof-Naturalien-Cabinet.
Über 10 Jahre hat der 1966 geborene, ungarische Schriftsteller Péterfy an diesem Buch gearbeitet, das in der Folge auch noch die Freundschaft zwischen Soliman und dem epochalen Spracherneuerer Ferenz Kazinczy thematisiert. Beide bemühen sich bis an ihr Lebensende vergeblich, die Welt durch die Vermittlung von Einsichten und Wissen ein wenig besser zu machen. Aber dafür ist Gergely Péterfy 300 Jahre später genau das grandios gelungen!

So, jetzt bin ich vor lauter Buch-Faszination gar nicht zu den Higlights aus der echt spannenden Diskussion gekommen, aber die kann man sich bis 22.11. ja auch noch selbst ansehen. Und das sollten Sie!

19.30
Hurra, zum Abschluss heute gibt´s die traditionelle literarisch-künstlerische Soiree! Auch wenn diese heuer nicht in echt in der NÖ Landesgalerie ihren Anfang nimmt. Und wir die neue Ausstellung „Spuren und Masken der Flucht“, kuratiert von Günther Oberhollenzer, später „nur“ in virtuellen Auszügen zu sehen bekommen werden.
Stattdessen lausche ich jetzt der in Aserbaidschan geborenen und in Deutschland aufgewachsenen Schriftstellerin Olga Grjasnowa, die ihren neuen Roman „Der verlorene Sohn“ (2020) vorstellt. Eigentlich ist sie ja bekannt für ihren starken Aktualitätsbezug, aber in diesem Fall entführt sie uns in den wilden Kaukasus des 19. Jahrhunderts, in die Zeit des Kaukasischen Krieges, des Eroberungszugs Nikolais I., der Konstantinopel einnehmen will. Im Zentrum der Erzählung steht jedoch der 9-jährige Jamalludin, Sohn eines mächtigen Imams, der in den Wirrungen des Krieges 1839 als Geisel am Hof des Zaren in St. Petersburg landet. Und jetzt wird es richtig spannend – auch im Hinblick auf das Festival-Thema Wildnis: Jamalludin ist und bleibt – eigentlich sein ganzes Leben lang – hin- und hergerissen zwischen den beiden Kulturen, zwei Religionen, zwei Identitäten. “Womit die Geschichte in gewisser Weise dann ja doch wieder topaktuell ist”, lacht Grjasnowa.

Und gleich nochmal Hurra!, denn jetzt sagt uns ein echter Rockstar der Worte Guten Abend: Der 1972 in Tschechien geborene, österreichische Schriftsteller Michael Stavarič.  Natürlich hat er seinen neuen dystopischen Roman „Fremdes Licht“ (2020) dabei. Und in dem geht’s ordentlich ungestüm zur Sache: Erst geht die ganze Welt unter, dann treffen Raketenflüchtlinge auf Eisbären, und schließlich überlebt nur eine einzige Person, (es ist eine Frau, grins), die sozusagen zur Chronistin der gesamten Menschheitsgeschichte wird. Bei jedem neuen Buch habe er automatisch auch eine Playlist im Ohr, man könne das in der Sprache hören, überhaupt sei bei ihm die Sprache die eigentliche Geschichte, erzählt Stavarič. Aber das Drumherum nehmen wir auch sehr gerne mit!

Eins noch zur Ausstellung: Sobald es wieder geht, fahren Sie bitte nach Krems und sehen sich die Wandmalerei der iranischen Künstlerin Ramesch Daha an der Gefängnismauer der Justizanstalt Stein an. Sie erinnert auf berührende Weise an die geschichtsträchtigen Ereignisse des 6. April 1945, als es in Krems zu einem der letzten grausamen Endphasenverbrechen des 2. Weltkriegs kam.

Ich wünsche Ihnen eine gute Nacht!

***

WILDNIS # TAG 3 TEIL 1
Samstag, 21. November 2020

10:00
Heute Vormittag stehen zwei Lesungen auf dem Programm, bei denen die WILDNIS das Tempo variiert:

Der Müßiggänger: Edo Popović. Er begann in den 1990er Jahren als Popliterat, wurde dann Kriegsberichterstatter und ist jetzt reflektierender Essayist. Wie das gehe, wird er gefragt, und seine Antwort ist einfach: „It happens naturally. My life, my writing is somehow like an EKG.“ Der 1957 geborene, kroatische Schriftsteller hat eine „Anleitung zum Gehen“ (2015) geschrieben, die bestens dafür geeignet ist, unsere Welt neu zu vermessen. Natürlich muss ich unweigerlich an Thomas Bernhard denken, der „Gehen“ so definiert: „Es ist ein ständiges zwischen allen Möglichkeiten eines menschlichen Kopfes Denken und zwischen allen Möglichkeiten eines menschlichen Hirns Empfinden und zwischen allen Möglichkeiten eines menschlichen Charakters Hin- und Hergezogenwerden.“
Und auch Popović hilft das Gehen beim Wahrnehmen, Reflektieren und Sichselberspüren. Die Natur, die Wildnis wären dabei seine Lehrmeister gewesen. Das alles ist Inhalt seines Buches. Sehr sympathisch!

Der Schnelle: Matthias Politycki. Der 1955 geborene, deutsche Schriftsteller, Marathonläufer und Weltreisende ist in puncto Gedanken-Gänge und Gehen anders unterwegs. Seine Themen, genau wie seine Sprache, wirken plakativer, lauter, auf mich. Zuletzt ist sein Roman „Das kann uns keiner nehmen“ (2020) erschienen, aus dem er heute auch liest, und für der er sich – physisch wie literarisch – den Kilimandscharo vorgenommen hat. Auf dessen Kraterspitze treffen sich zwei Männer, die in Sachen Weltanschauung und Sozialisation unterschiedlicher nicht sein könnten. In einer Extremsituation sei vieles egal, sagt Politycki, da wäre man mitunter sogar über die Anwesenheit eines Menschen froh, mit dem man sonst nichts zu tun haben möchte, würde Gesprächs- und Berührungspunkte finden, die sonst undenkbar wären.

Es wäre schön, wenn der Akt des Gehens, egal ob physisch oder in Gedanken, tatsächlich Annäherung möglich machen würde. Annäherung an fremde Menschen. Ansichten. Werturteile. In diesem Sinne: Begleiten Sie mich doch noch wenig.


12.00
Ariadne von Schirach brauche ich ja nicht mehr vorzustellen, sie hat uns bereits am Eröffnungstag beglückt. Bei ihrem heutigen Gesprächspartner, Andreas Weber, ist das anders: Er ist deutscher Biologe, Biosemiotiker, Philosoph und Publizist (¬– zuletzt ist von ihm der Essay „Indigenialität“ (2018) erschienen –). Und er ist vor allem einer, von dem ich mir gerne die Biologie erklären lasse. Und zwar aus einer völlig neuen, ganzheitlichen Perspektive heraus.

Ich kann die 90 Minuten nicht adäquat für Sie zusammenfassen, zu hoch war die Anzahl der spannenden Impulse, innovativen Ideen und inspirierenden Ansätze, die von Kierkegaard  über Quantenphysik bis zum Märchen „Des Kaisers neue Kleider“ reichten. Sie werden nicht umhin kommen, sich die Diskussion selbst anzusehen, betrachten Sie als Pflichtlektion in Sachen Altruismus. Aber wenn ich es doch müsste, bliebe am Ende ein einziges Wort: LIEBE.

Denn, dass es so nicht weitergehen kann mit der Welt, mit der politischen, ökologischen, gesellschaftlichen Vergiftung, mit Ungleichbehandlung anderen Lebens, ungerechter Reichtumsverteilung, mit dieser Vergiftung der Gegenseitigkeit, ist jedem Kind klar. „This is all wrong“, sagt etwa Greta Thunberg. Und doch lassen wir zu, dass die Glaubenssätze des Westens immer mehr die Philosophie des Animismus untergraben: Ich bin, weil du nicht bist, heißt es, statt: Ich bin, weil du bist. Oder: Egoismus ist der Kern unseres Wesen, statt: Gegenseitigkeit macht erst (Da)Sein möglich. Oder: Die Realität ist tote Materie, statt: Alles ist lebendig. Sie sehen schon, die Komplexität des Themas lässt mich zwangsläufig vom Hundertsten ins Tausendste kommen.

Was machen wir jetzt?
Was wäre wenn, wir öfters bei der Wahrheit blieben?
Was wäre wenn, wir wie Jane Godhall als Kind mit Regenwürmern unterm Kopfkissen schliefen? Erfahrungen mit Lebewesen teilten, die keine Menschen sind?
Andere Karten, Begrifflichkeiten, Ordnungen, Kulturen studierten, von ihnen lernten?
Ganzheitlicher dächten?
Uns als kollektiven Körper verstünden?
Wieder ein Gefühl der Verbundenheit entwickelten?
Mehr verzichteten und teilten?
Gegenseitigkeit zuließen?
Die Wirklichkeit neu erfassten?

Ich wiederhole mich jetzt, aber:
Wie wäre es mit mehr Liebe?


WILDNIS # TAG 3 TEIL 2
Samstag, 21. November 2020

16:30
Schön war´s mit meinen KollegInnen Anna Ospelt, Peter Balko, Filip Springer und natürlich Moderator Hans Koch, der vier Bücher in Rekordzeit besprochen hat. Die literarische Reise heute ging einmal quer durch Europa, von Polen bis nach Liechtenstein.

Den Anfang gemacht hat der slowakische (Drehbuch-)Autor und Journalist Peter Balko mit seinem Romandebüt „Zusammen sind wir unbesiegbar“ (2020). Er erzählt die berührende Geschichte einer Bubenfreundschaft, die an Huckleberry Finn
erinnert, mit dem feinen Unterschied, dass sie, wie er selbst  sagt, „im wilden, schwarzhumorigen Balkan-Style“ daherkommt. Gleichzeitig liefert Balko eine literarische Liebeserklärung an seinen Heimatort und seine Familie in der Slowakei ab. Ich möchte sie auch lieben lernen.

Die Liechtensteiner Schriftstellerin Anna Ospelt, geb. 1987, beweist mit ihrem Debut „Wurzelstudien“ (2020), dass nicht nur Geigenbauer etwas von Bäumen verstehen, (– übrigens genau wie ich; ich weiß es auch erst, seit ich ihr Buch gelesen habe.) Sie schickt ihre Protagonistin kurzerhand auf Spurensuche nach Bäumen, Pflanzen und Rhizomen. Und gräbt literarisch, philosophisch und botanisch interessante Zufalls-Schätze aus.

Filip Springer, 1982 in Polen geboren, ist Fotograf, Reporter und Autor – mit einem ausgeprägten Faible für Archäologie und Schwund. Soll heißen, dass er es mag, Geschichten aus Objekten herauszulesen und in seinen Erzählungen Dinge verschwinden zu lassen. In seinem Roman „Kupferberg“ (2020) widmet er sich dem, im 13. Jahrhundert gegründeten, gleichnamigen Städtchen Kupferberg/Miedzianka, das er auf erstaunliche Art und Weise wieder auferstehen lässt.

Bleibe schließlich noch ich, Daniela Emminger, – und da es ein wenig seltsam wäre, über sich selbst zu schreiben, nur ganz kurz: Die Wildnis ist mir nicht fremd. Für meinen Roman „Kafka mit Flügeln“ (2018) habe ich monatelang im kirgisischen Hochgebirge zugebracht. Aktuell hat es mich mit „Zirkus.Braunau – Ein österreichisch-europäisches Glamourstück für politisch schwierige Zeiten“ nach Braunau am Inn verschlagen, um dort in einem Gorillakostüm die „politische Verwüstung“ unter die Lupe zu nehmen, die heute bereits bei
Ariadne von Schirach und Andreas Weber Thema war.

Toller Abend! Viel Spaß mit den neuen Büchern! Danke!


19:30
Mich hat ja schon länger die Leidenschaft zu Island gepackt, aber spätestens seit dem heutigen Auftritt des Literaten, Musikers und Künstlers Sjón, würde ich sagen: Reykjavik, heiz deine Geysire vor! (– wohlwissend natürlich, dass diese das von selbst erledigen). Sjón, geboren 1963, hat Liedtexte für Björk und Lars von Trier geschrieben. Und stapelweise schöne Bücher produziert – etwa "Schattenfuchs“ oder „The Boy Who Never Was“ – und sich in letzterem bereits 2016 literarisch an einer globalen Pandemie abgearbeitet. „Das mit Corona wäre in meinem Fall also schon erledigt“, scherzt der isländische Meister der Erzählkunst.

Doch Mittel- und Höhepunkt der literarisch-musikalischen Soiree, die übrigens in Kooperation mit dem Festival „Glatt & Verkehrt“ stattfindet, ist seine eben auf Deutsch erschienene Roman-Trilogie „CoDex 1962“ (2020). Da treffen grotesker Humor auf politisches Zeitgeschehen und Sci-Fi auf isländische Identität und Geschichte.

„Iceland is famous for its wilderness“, konstatiert Sjón an einer Stelle, und für ihn ist diese vor allem in der Fantasie, der Vorstellungskraft, in Geschichten angesiedelt. Und noch ein beeindruckender Satz fällt: „It´s all and always about the fight between the tyrann and the poet, the rebellion in heart against all power that tries to restrain individuals.“ Zum Glück gehe seiner Ansicht nach dabei stets der Poet als Sieger hervor, denn er besäße die mächtigste aller Waffen: Sprache.   

Ebenfalls „Wüdnis“ verbreitet der begnadete Liedermacher und Schriftsteller Ernst Molden, der gemeinsam mit „der besten Schlagwerkerin von ganz Österreich“, Maria Petrova, zum Konzert lädt und Songs aus dem gleichnamigen Allbum zum Besten gibt. Aber die müssen ganz sicher nicht beschrieben werden, sondern gehört!


***

WILDNIS # TAG 4
Sonntag, 22. November 2020

11:00
Großes Finale! Eben geht der Ehrenpreis des Österreichischen Buchhandels für Toleranz in Denken und Handeln an die großartige schottische Schriftstellerin und Performerin A. L. Kennedy! Hurray & Congratulations!

„A.L. Kennedys Romane und Erzählungen sind tiefschürfend, wagemutig und gehören zu den wichtigsten Werken der Gegenwartsliteratur“, so die Begründung der Jury. Aber auch als Person ist Kennedy eine, die nicht müde wird, ihre Stimme zu erheben – sei es mit ihrer bissigen Brexit-Kolumne „Affentheater“, ihrer dynamisch vorgetragenen Beschimpfungs-Poesie oder auch ihrem gesellschaftlichen Engagement.

„Literatur erhellt das Leben“, sagt sie, „und hilft uns dabei, den Herausforderungen der Welt empathischer begegnen zu können.“ Kennedy ist sich sicher, „dass wir in der Zeit nach der Pandemie gelernt haben werden, einander zu lieben.“ Überhaupt legt sie ein Urvertrauen an das Gute, das Schöne, einen unerschütterlichen Glauben an die Formbarkeit der Welt an den Tag. Sie weiß um das Wunder von Worten und wie wir uns durch sie der Wahrheit und Erkenntnis nähern können.

Unter den vielen Glückwunschbekundungen besonders berührend: die Laudatio der deutschen Journalistin Sonja Zekri: „A. L. Kennedy lässt sich nicht unterkriegen. Und wenn sie sich nicht unterkriegen lässt, dann weiß sie ja vielleicht etwas, was wir nicht wissen.“

Ich weiß an dieser Stelle beim besten Willen nicht, welches Buch der Preisträgerin ich Ihnen besonders ans Herz legen soll: "Süßer Ernst“?, „Das Blaue Buch“?, The Little Snake“?, den Essayband „Schreiben“? – alle sind sie unverzichtbar.

Die Europäischen Literaturtage 2020 sind fast zu Ende. Gerade spielt nochmal das Jazz-Trio „Mario Rom’s Interzone“ auf. Und spätestens jetzt möchte man in echt in Krems sein, vielleicht mit einem (frühen) Glas Wein in der Hand, ganz sicher aber mit einer Wunschliste in der Tasche, die angesichts der Vielzahl an anregenden Buchvorstellungen der letzten vier Tage, so lang ist, dass sie einmal den Globus umspannt.

Bleibt mir an dieser Stelle nur noch, mich von Ihnen zu verabschieden. Und aufs Herzlichste beim künstlerischen Leiter des Festivals, Walter Grond, seinem Team und natürlich bei allen KollegInnen zu bedanken. Es war mir ein Fest!
In diesem Sinne: Leben Sie wild und gefährlich (– was sich natürlich nicht auf Covid-19 beziehen soll)! Und lesen Sie, was das Zeug hält!

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