Die Ausgewanderten.
Wie verändert sich die europäische Literatur durch und entlang der vermehrten Migration von Autoren?
Ich habe gerade zum ersten Mal einen Roman beendet, seitdem ich in Frankreich lebe. Ich glaubte, mein Gefühl der Heimatlosigkeit würde noch stärker werden, wenn ich außerhalb meines Landes schreibe. Nun aber kann ich sagen, das Schreiben selbst ist zu meiner Heimat geworden. Es begleitet mich beim schlaflosen Durchstreifen all der flüchtigen und vergangenen Orte. Wenn ich von einem Flugzeug ins nächste steige, dann als Einwohnerin meines Schreibens. Ich lebe heute an einem Ort, an dem die Träume schwinden, in Straßen, die nicht aussehen wie die meinen, auf Plätzen, auf denen ich die Buchstaben meiner Sprache nie ritzen werde können, und ich ertappe mich dabei, wie ich Kreise in die Luft zeichne und auf die Wasseroberfläche der Flüsse schreibe. Ich weiß nicht, ob ich draußen oder drinnen bleiben will. So sind die Orte der Auswanderer, auf ihnen genügt sich das Schreiben selbst …
Iman Humaydan, libanesische Schriftstellerin, die in Paris lebt.
Symposium Teil 1 “Die Ausgewanderten” Fri, 23.10.15, 10:00 Schloss zu Spitz
Literaturlandschaft Frankreich. Gibt es den Weltroman, und wie steht es um die Beziehung von Wort und Bild in Frankreich?
Das Land gleitet langsam und seltsam schmerz- und widerstandslos unter die Decke der Religion – und genau darum geht es wohl. Als Seismograf seiner Epoche verleiht Michel Houellebecq einem französischen Malaise Ausdruck, das mit Barbey d’Aurevillys Alternative zwischen Pistole und Kreuz auf seine zugespitzte Formel gebracht ist: Dereinst könnte sich dann tatsächlich die Wahl zwischen politischem Suizid (etwa durch die Wahl eines rechtsradikalen Staatspräsidenten) oder Unterwerfung unter einen wie auch immer gearteten religiösen Zauber aufdrängen. Die französischen Republiken haben solche Situationen schon erlebt – und überstanden, etwa Ende des 19. Jahrhunderts, zu Zeiten der „Dekadenz“, des Traumas der Niederlage gegen Preußen, der ersten großen und globalen Finanzskandale, der Dreyfus-Affäre, dieser Geburtsstunde des modernen Antisemitismus.
Jürgen Ritte, Professor an der Université Sorbonne Nouvelle-Paris 3, in einer Besprechung zu Michel Houellebecqs Roman Unterwerfung, Neue Züricher Zeitung
Symposium Teil 2 “Literaturlandschaft Frankreich” Fr., 23.10.15, 15:00 Schloss zu Spitz
Literarische Trends in Europa. Welche Entwicklungen sind für andere Sprachräume relevant, lässt sich ein literarischer Trend in den einzelnen Ländern ausmachen?
Die Überraschung war einhellig. Schon bei der Nomination der Shortlist für den Preis der Leipziger Buchmesse wunderten sich viele: ein Lyriktitel unter den besten fünf Büchern des Jahres? Nun hat exakt dieses Exotikum den Preis zuerkannt erhalten … Alle Kommentare waren sich darin einig, dass Jan Wagner mit Recht für seinen Gedichtband „Regentonnenvariationen“ ausgezeichnet worden ist. Umso eigenartiger mutet die damit verbundene Verblüffung an. Sie kulminiert gewissermaßen in einer Bemerkung auf der Webseite des Schweizer Fernsehens: „Grundsätzlich sind alle Genres zugelassen – aber dass die Jury einen Gedicht-Band aus den über 400 eingereichten Werken ausgezeichnet hat, spricht entweder gegen die anderen Texte – oder eben sehr für Jan Wagner.“ Die Formulierungen lassen tief blicken, sie rühren an Grundsätzliches. Woher kommt der Gedanke, dass ein Preis an einen Lyrikband fast zwingend ein Argument gegen die Qualität von Romanen sein muss? Dass Auszeichnungen im Prinzip die Gattung Roman favorisieren? Wie eine Übersicht über die Buchpreise der letzten Jahre unschwer zeigt, misst sich moderne Literatur am Roman (am liebsten mit einem Umfang von etwa 300 Seiten). Allenfalls finden Erzählbände hin und wieder die Gunst einer Jury. Romane werden verlegt, ausgezeichnet, gekauft und gelesen. Sie repräsentieren daher das ökonomische Ideal der modernen Literatur. Poesie und Epos waren mal, Theater ist etwas anderes.
Beat Mazenauer, Literaturkritiker, Projektleiter von LiteraturSchweiz
Symposium Teil 3 “Literarische Trends und Innovatives im digitalen Feld” Sam., 24.10.15, 9:30 Schloss zu Spitz
Innovatives im digitalen Feld. „Online-first” war ein Schlagwort in der Zeitungswelt. Kommt es nun auch im Buchbereich an?
Anklagend stehen im Bücherregal die nie (zu Ende) gelesenen Werke, Ulysses und Moby Dick, Büchners Lenz und Tellkamps Turm. Aber bei diesen Titeln, die so manchem Käufer auch in erster Linie als Bildungsbürgertapete dienen mögen, weiß in der Regel nur der Besitzer, ob und wie weit er sie gesehen hat. In der schönen, oder eben manchmal auch erschreckenden neuen digitalen Welt ändert sich das. Das Wissen um nicht (zu Ende) gelesene Bücher reichern hier die Distributoren von ebooks an, wie man jüngst im Guardian nachlesen konnte. Die Daten von rund 21 Millionen ebook-Lesern aus Kanada, den USA, Großbritannien, Frankreich, Italien und den Niederlanden hat Kobo zwischen Januar und November 2014 ausgewertet und dabei interessante Ergebnisse zu Tage gefördert. So gibt es zum Beispiel keine einzige Übereinstimmung zwischen den Top 10 der Kobo-ebook Bestsellerliste und den Top 10 der tatsächlich zu Ende gelesenen Titel. Auch regionalspezifische Unterschiede zeigen sich: Engländer lesen am ehesten Liebesromane bis zum Schluss (61 Prozent), ebenso wie Italiener (74 Prozent), Franzosen dagegen Mysteries (70 Prozent).
Dirk Rumberg, Unternehmensberater und Literaturagent
Symposium Teil 3 “Literarische Trends und Innovatives im digitalen Fels” Sam., 24.10.15, 11:30 Schloss zu Spitz
Symposium Teil 4 “Resümee” Son., 25.10.15, 10:00 Schloss zu Spitz.
Gerwig Epkes (Baden-Baden) und Rosie Goldsmith (London)